Das Buch, das Netz, die Transformation und ihre Liebhaber
Es ist die Liebhaberei alter, weißer Männer: die Diskussion über Begriffe (und das Schöne daran ist, dass man dafür weder alt, weiß noch männlich sein muss).
Begriffe prägen unser Denken. Auch wenn es mühsam ist, so sollten wir uns dennoch mit den in der jeweiligen Disziplin verwendeten Begriffen und deren Bedeutung auseinandersetzen. Beat Döbeli-Honegger hat vor einigen Tagen versucht, seine Verwendung der Begriffe zu visualisieren – Link: Digitalisierung, Digitalität & Co.
Die anschließende Diskussion drehte sich im Wesentlichen darum, ob die digitale Technik Auslöser oder Ermöglicher war, wo wir bei der Phase der Digitalisierung stehen und ob es eine Kultur der Digitalität oder doch deren mehrere gibt.
An dieser Stelle möchte ich aber einen anderen Punkt aufgreifen, der mich in Beats Grafik überrascht hat: die Verwendung und Übereinanderlegung der Begriffe „digitale Transformation“ und „digitaler Leitmedienwechsel„.
Digitale Transformation beschreibt den Wandel aufgrund der digitalen Technologien in der Wirtschaft, speziell in Unternehmen (siehe: Wikipedia). Persönlich finde ich es nicht sehr passend, diesen Begriff, der sich auf Verwertungsprozesse, Wertschöpfung, Infrastrukturen, etc. bezieht für (welt)gesellschaftliche Prozesse im Allgemeinen und für schulische Bildung im Besonderen zu verwenden.
Warum? Das geltende Primat der Ökonomie stellt uns vor in Fragen der Klimaveränderung der Umweltverschmutzung, des Artensterbens vor enorme Herausforderungen. Ein Teil der Lösung wird darin bestehen müssen, hier ebendieses infrage zu stellen. Zudem sollte es uns bei der Diskussion um die Bildung im Zeitalter der Digitalisierung nicht in erster Linie um Kennzahlen wie CPU pro Kind, mbit/s pro Lehrperson oder Pixel pro Lernziel, gehen.
Keiner kommt auf die Idee Schulen mit Unternehmen zu vergleichen? Doch:
Ich vertrete die Meinung, dass hier der Begriff der Leitmedientransformation der geeignetere wäre. Was versteht man darunter? Kennzeichen eines Leitmediums ist, dass ihm eine Hauptfunktion in der gesellschaftlichen Kommunikation zukommt. Leitmedien sind nach Erdmann/Rückriem komplex, verschachtelt, umfassend, allgemein, irreversibel, eröffnen neue und andersartige Kommunikationsräume und ermöglichen (und erfordern) neue Lernformen. Neue Leitmedien verändern das gesellschaftliche System (und mehr) als Ganzes (hier, S. 18). Transformation bedeutet die Änderung von allem und von Grund auf, ein neues Emergenzniveau bildet sich heraus, diese Veränderung wirkt sich auch auf gekoppelte Systeme aus (detailliert: hier, S. 20).
Auf eine Leitmedien-Formation (Buchkultur) folgt die Leitmedien-Transformation (Digitalisierung), diese geht über in eine neue Leitmedien-Formation (Netzkultur, Kultur(en) der Digitalität). Ich habe versucht, das hier darzustellen:
In dieser Grafik schwierig darstellbar: ein neues Leitmedium ergänzt das bisherige, ersetzt es aber nicht. Ein Beispiel: beim Übergang von skriptografischen zur kryptografischen Kultur haben wir dennoch weiterhin geschrieben, weiterhin gesprochen und weiterhin unsere Gestik und Mimik verwendet. Axel Krommer verwendet zur Veranschaulichung dieses Aspektes ein Quadrat und einen Würfel: hier
Warum verwende ich nicht den Begriff Leitmedienwechsel? Erdmann und Rückriem sprechen von einer autopoietischen Selbst-Umwälzung: „Das betrifft z.B. die öko-kulturellen Systeme, Kulturen, Gesellschaften, Institutionen, Wissensformen, Menschen- und Weltbilder, Ideologien etc., aber eben auch die Menschen selbst. M.a.W., alles, was mit dieser Leit-Medien-Entwicklung verbunden oder davon berührt ist, befindet sich in diesem Sog der Veränderung. Das wiederum schließt zugleich die Umwälzung der jeweiligen historischen System-Medienkonstellation insgesamt mit ein.“ Das ist mehr und Anderes als wir mit „Wechsel“ verbinden. Wenn im Skiweltcup die Schweiz Österreich in der Nationenwertung überholt, dann findet ein „Wechsel“ statt. 😉 Aber das ist Ansichtssache und nur meine persönliche Meinung.
Wie weit ist die Leitmedientransformation vorangeschritten? Philippe Wampfler schreibt (hier) dass der Prozess der Digitalisierung abgeschlossen sei und wir künftig ausschließlich von Digitalität anstelle von Digitalisierung sprechen könnten. Davon bin ich noch nicht überzeugt. Die Leitmedientransformation ist ein langwieriger Prozess, von der Erfindung des Buchdrucks bis zur unumstrittenen Etablierung der Buchkultur hat es Jahrhunderte gedauert. Die Leitmedientransformation hin zu einer Kultur der Digitalität zieht sich bereits über Jahrzehnte. Computer wurden in den 1940ern allmählich digital, Banken verwendeten sie bereits in den 1960ern, die Polizei arbeitet mit Datenbanken seit den 1970ern usw. Viele Bereiche der Arbeits- und Lebenswelt wurden bisher von der Digitalisierung grundlegend verändert. Dennoch: mit einem Blick bspw. auf den Individualverkehr (Fahrassistenzsysteme, Vernetzung von Fahrzeugen, etc.) oder den öffentlichen Personennahverkehr (Taktungen, Ticketing, etc.) meine ich, zu erkennen, dass der Prozess der Leitmedientransformation noch länger nicht abgeschlossen ist.
Hans Magnus Enzensberger spricht davon, dass sich am Anfang eines solchen Prozesses die neue Technologie im Gewand der alten präsentiert (wenn ich bloß die Quelle dazu finden würde…). So hatte mein erster E-Book Reader einen Ledereinband wie ein wertvolles Buch.
Mittlerweile präsentiert sich die alte Technologie im Gewand der neuen, wie dieses Beispiel von Axel Krommer sehr schön zeigt:
Auch wenn der Prozess der Digitalisierung noch nicht abgeschlossen ist, so kann dennoch Bildung unter den Bedingungen der Digitalität 2020 ermöglicht werden. Bei dem Begriff zeitgemäße Bildung wage ich den Einwand, dass mir nicht klar ist, wer denn nun bestimmt, was „zeitgemäß“ ist. Welche Reichweite hat eine derartige Bestimmung? Zudem: die Diskussion zielt fast immer auf „Didaktik“, nicht auf „Bildung“.
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